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„Kulturelle Identität“ – die meisten von uns sind vermutlich schon einmal über diesen Ausdruck gestolpert. Auf den ersten Blick ist zunächst ersichtlich, dass er sich aus den Begriffen Kultur und Identität zusammensetzt. Sicherlich können sich viele Menschen unter den einzelnen Begriffen etwas vorstellen und beide Wörter möglicherweise auch verknüpfen:  Das Phänomen, wenn sich ein Mensch einer Kultur zugehörig fühlt und sich mit ihr identifiziert, wird kulturelle Identität genannt.
Klingt logisch, oder?

Ja, im Allgemeinen ist dies die richtige Definition. Dennoch lohnt es sich, den Ausdruck näher zu betrachten – besonders hinsichtlich der Schwierigkeiten, die manche Menschen bei der Entwicklung der kulturellen Identität haben oder auch besonders deswegen, weil sich viele Menschen nicht zwangsläufig nur einer Kultur zugehörig fühlen. Das Phänomen, sich mehr als nur einer Kultur zugehörig zu fühlen, wird hybride Identität oder auch Transkulturalität genannt. Spannend ist hier insbesondere der Blick auf diejenigen, die aufgrund von Flucht oder Migrationsbiografie gezwungen sind, ihre kulturelle Identität in einer für sie zunächst fremden Kultur auszuleben, aufrecht zu erhalten und beide Kulturen miteinander zu verknüpfen.

Bevor wir den Begriff also genauer unter die Lupe nehmen, sollte sich jede*r kurz die Frage nach der eigenen kulturellen Identität stellen: Was verstehe ich unter kultureller Identität? Kann ich behaupten, dass sich meine eigene kulturelle Identität quasi automatisch und wie von selbst entwickelt hat? Fühle ich mich einer oder aber mehreren Kulturen zugehörig? Und habe ich meine kulturelle Identität überhaupt jemals thematisiert oder hinterfragt?

Der Dichter und Philosoph Johann Gottfried Herder vertrat im 18. Jahrhundert die Auffassung, dass sich eine Kultur aus Mitgliedern mit gleicher Lebensform bildet – ein homogener Personenkreis mit homogenem Lebensstil. Dies bedeutet gleichzeitig, dass sich Menschen durch ihren gleichen Lebensstil von Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen, die in sich ebenso ihre Gleichartigkeit aufweisen, abgrenzen. Kurzum: Eine Kultur besteht laut Herder aus Menschen mit homogenen Lebensformen, die sich aufgrund ihrer Gleichheit von anderen Kulturen und Menschen abgrenzen.

Stimmt dieses Verständnis mit eurer Auffassung von Kultur überein?

Was meine persönliche Auffassung von kultureller Identität von Herders Definition unterscheidet, ist in erster Linie der Aspekt der Abgrenzung von anderen Kulturen und Menschen, um eine in sich homogene Kultur bilden zu können. Fest steht doch, dass unterschiedliche Kulturen die deutsche Bevölkerung prägen – und genau diese Vielfalt an Kulturen bereichert und erweitert meiner Meinung nach das Leben in einem kulturreichen Land.

Auch in der Sozialwissenschaft hat sich das heutige Verständnis von Kultur seit dem 18. Jahrhundert verändert – einen wichtigen Anteil daran haben sicherlich die Globalisierung und die Vielfältigkeit moderner Gesellschaften.

Der ehemals klaren Abgrenzung der Kulturen stehen inzwischen vielmehr die Mischung und das Durchdringen von diversen Kulturen entgegen. Der Begriff Transkulturalität beschreibt eine Kultur, an der sämtliche Personen ungeachtet ihrer „ursprünglichen“ Kultur teilhaben. Eine solche Kultur ist durchdrungen von kulturellen Faktoren, die in ihrer Vielfältigkeit und Diversität die Gesellschaft bereichern und verpflechten.

Die Sozialwissenschaft spricht von einer kulturellen Identität in Zusammenhang mit dem Zugehörigkeitsgefühl einer kollektiven Kultur. Das Zugehörigkeitsgefühl basiert auf den Gemeinsamkeiten in Geschichte, in Tradition, in Religion und in moralischen Werten. Die kulturelle Identität prägt die Werte, die Weltanschauung und Denkweisen und die Verhaltens- und Lebensweisen eines Individuums.

Die eigene Identität entwickelt sich stets weiter und durchläuft eine ständige Veränderung. Jeder Mensch befindet sich in einem andauernden, die Identität formenden Prozess. Kulturelle Identität steht in einer engen Verbindung zwischen Individuum und Gesellschaft und bildet sich durch die Zugehörigkeit und die Interaktion mit einer gesellschaftlichen Gruppe aus. Das sozialen Umfeld spielt also eine wichtige Rolle.

Doch was bedeuten diese theoretischen Überlegungen für unsere eigene kulturellen Identität? Und was sind die Herausforderungen bei deren Entwicklung?

Laut Bundeszentrale für politische Bildung hatte 2018 über ein Viertel der deutschen Bevölkerung einen Migrationshintergrund. Anders gesagt: Jede vierte Person, die du in der Bahn triffst oder der du beim Spazieren an der Außenalster begegnest, weist einen Migrationshintergrund auf.

Die Vielfältigkeit der Bevölkerung in Deutschland und das Gefühl und die Möglichkeit, sich mit mehreren Kulturen identifizieren zu können, demonstrieren die heutige Verflechtung von Kulturen.

Vielleicht mag mein persönlicher Blick auf das Zusammenleben mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturen für einige etwas naiv oder nicht sofort nachvollziehbar sein. Ich jedenfalls schätze die Möglichkeiten, die mir das Zusammenleben und die Vernetzung mit anderen Kulturen bieten. Kulturelle Diversität bereichert mein Wissen, mein Leben und mein Denken. Ich persönlich zähle zu dem Viertel der deutschen Bevölkerung, das einen Migrationshintergrund aufweist, und ich identifiziere mich mit zwei Kulturen.

Zwei unterschiedliche europäische Kulturen prägen mein Denken, mein Handeln und mein Bewusstsein. Fällt mir dies leichter, weil es sich um zwei europäische Kulturen handelt, die meine hybride Identität ausmachen? Ist die Verknüpfung der beiden Kulturen unkomplizierter, weil es sich um europäische Nachbarländer handelt? Fiel es mir weniger schwer, weil ich in Deutschland aufgewachsen bin und mein Lebensraum meine Kultur genauso beeinflusst wie der kulturelle Einfluss meiner Eltern? Wahrscheinlich lautet die Antwort JA.

Umso wichtiger ist es, den Blick auf diejenigen zu richten, die vor Herausforderungen und Schwierigkeiten bei Findung der eigenen (hybriden) kulturellen Identität standen oder noch stehen.

Die eigene kulturelle Identität kann sowohl positiv als auch negativ beeinflusst werden. Die soziale Konstruktion von Rasse und das Erfahren von Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit  kann die Entwicklung der eigenen kulturellen Identität negativ beeinflussen und sogar Traumata verursachen. Wenn ein Mensch aufgrund seines gefühlten „Andersseins“ von anderen Menschen ausgegrenzt wird, löst dies Stressfaktoren bei der Ausbildung und Findung des eigenen Selbst aus.

Besonders geflüchtete Menschen finden sich häufig in dieser Situation wieder. Von ihnen wird oftmals erwartet, sich der neuen Kultur anzupassen und sich die neuen Regeln und gängigen Normen schnell anzueignen. Betrachtet man den Fakt, dass Menschen vor Hunger, Krieg und Todesangst flüchten und dann vor der Herausforderung stehen, ihre bisherige kulturelle Identität mit der Kultur des Landes, in dem sie nun mehr oder weniger freiwillig leben, vereinbaren müssen, ist es fast frech von ihnen zu erwarten, sich der für sie noch fremden Kultur „einfach so“ anzupassen. Unsere Identität durchläuft einen ständigen Prozess, sie entwickelt sich stetig weiter. Es braucht also Zeit, die bisherige kulturelle Identität mit der „neuen“ Kultur zu vereinbaren.

Menschen mit Migrationshintergrund stehen vor der Herausforderung, eine multikulturelle (oder hybride) Identität zu entwickeln. Diese kann zugleich eine positive Bereicherung darstellen, aber auch negative Auswirkungen haben. Abhängig ist dies von der Aufnahmebereitschaft und Offenheit des jeweiligen Einwanderungslandes. Auch für Menschen, die in erster Generation in Deutschland leben und deren Eltern einen Migationshintergrund haben, kann die Entwicklung der eigenen kulturellen Identität schwierig und mit Fragen und Unsicherheiten verbunden sein. Für viele, die in oder zwischen zwei Kulturen aufwachsen, sind kulturelle Vorurteile im Alltag omnipräsent.

Fakt ist, dass jeder vierte Mensch der deutschen Bevölkerung einen Migrationshintergrund aufweist. Es ist anzunehmen, dass der Großteil dieses Viertels aufgrund hybrider kultureller Identitäten mal mehr und mal weniger mit den Schwierigkeiten bei der eigenen Identitätsfindung konfrontiert ist. Es sollte also auch Fakt werden, dass die Diversität und Vielfältigkeit der Kulturen die deutsche Bevölkerung prägen und bereichern.

Joanna (Teammitglied bee4change)

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